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STUTTGART/ Kammertheater: „KRIEG. STELL DIR VOR, ER WÄRE HIER“. Oper von Marius Felix Lange/Janne Teller. Uraufführung

Herausforderung des Verstandes

28.04.2018 | Oper


Ipca Ramanovic, Boris Dick. Copyright: Christoph Kalscheuer

Uraufführung von „Krieg. Stell dir vor, er wäre hier“ der Jungen Oper am 27. April 2018 im Kammertheater/STUTTGART

HERAUSFORDERUNG DES VERSTANDES

Die dänische Autorin Janne Teller fordert mit ihrem schonungslosen Essay „Krieg. Stell dir vor, er wäre hier“ unsere Vorstellungskraft heraus. Die direkte Sprache Tellers steht in reizvollem Kontrast zu Nora Gomringers Gedichten, die Erinerungsräume an die Heimat schaffen und die Sehnsucht wecken. Im Auftrag der Jungen Oper Stuttgart hat der Komponist Marius Felix Lange die verschiedenen Sprachen und Perspektiven auf die Heimat zu einer politisch aktuellen Kammeroper mit klassischem Streichquartett und Gesang für alle ab 14 Jahren vertont.

Elena Tzavara hat hier Regie geführt und sich ganz auf die psychologisch verzwickte Ausgangssituation der Protagonisten konzentriert. Die elegische und emotionale Musik von Marius Felix Lange unterstreicht die suggesitve Wirkung von Nora Gomringers verdichteter Sprache. Seine Komposition erinnert auch mehr an einen Liederzyklus. Es ist ein facettenreiches Wechselspiel von gesprochenem Text, Melodram und gesungenen Gedichten. Elena Tzavara verzichtet in ihrer Inszenierung bewusst auf die Darstellung von Krieg. Die Gedichte erhalten vielmehr starke Bilder und vielschichtige Assoziationsräume. Die Frage nach den Werten der Demokratie stehen dabei eindeutig im Zentrum und werden in wahrhaft elektrisierender Weise dramatisiert. Eine deutsche Familie flieht dabei vor dem Krieg in Europa in das sichere Ägypten. Geschildert wird die Ankunft in einem Lager hinter einem Stachelzaun mit gespenstischen Hügeln. Immer wieder flammen Konflikte auf. Die Integrationsbemühungen dieser Familie gestalten sich als schwierig. Es tauchen bizarre Bilder auf, die aber auch trügerische Vertrautheit wecken. Man sieht die deformierten Körper derjenigen, die Schreckliches gesehen und erlebt haben. Heimat bedeutet hier auf jeden Fall die Erinnerung an eine ferne Zeit.

Musikalisch-poetische Assoziationsräiume werden unter der suggestiven Leitung von Marius Felix Lange und Benjamin Hartmann wirkungsvoll erkundet. Zu den raffinierten Tremolo- und Glissando-Effekten des Streichquartetts des Staatsorchesters Stuttgart mit Lisa Kuhnert (Violine 1), Delia Ramos Rodriguez (Violine 2), Anthony De Battista (Viola) und Sophia Marie Garbe (Violoncello) werden die überlangen Arme und düsteren Masken zwischen Mickey-Mouse-Köpfen sichtbar. Die Herausforderung unseres Verstandes zieht sich so durch alle Elemente dieser Oper.


Benedikt Merath. Copyright: Christoph Kalscheuer

Ein Schauspieler und Sprecher (den Martin Jahrmärker ausdrucksvoll mimt) bietet Popcorn und Zuckerwatte an. Der Zuschauer wird wiederholt zurückgeworfen auf seine eigene Situation. Die Familie hat nur ein Motto – von den Bomben wegzukommen. Man erfährt, dass sich die Bearbeitung des Asylantrags hinzieht. Der Krieg wird als „Arschloch“ bezeichnet. Lichtwechsel unterstützen die zahlreichen szenischen Umbrüche. Auf welcher Seite des Zauns man steht, taucht automatisch auf. Aisha Tümmler (Sopran) reichert ihre schwierige Partie mit markanten Intervallspannungen und herausragenden Spitzentönen an. Ipca Ramanovic (Bariton) erfüllt seine voluminösen Kantilenen mit intensiver Gestaltungskraft. „Ich bin kaputt wie eine steckengebliebene Uhr“, bemerkt der Flüchtling erschöpft zu Pizzicato-Akzenten der Streicher. Der Junge (Boris Dick, Benedikt Merath und Jegor Dick) nimmt das zuweilen alptraumhafte Geschehen wie in Trance wahr. Er kann nicht mehr erfahren, was Heimat wirklich ist. Die Menschen sind hinter Drahtzäunen eingesperrt. Das Gefühl des Verlusts von Heimat korrespondiert mit den verschiedenen Wahrnehmungen von Heimat.

Das Werk ist auf jeden Fall ein flammendes Plädoyer für ein gemeinschaftliches und tolerantes Europa. Und dies ist aktueller denn je. (Ausstattung: Elisabeth Vogetseder).

Alexander Walther

 

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